Schon wieder ein Heiliger Abend. Eigentlich wie jedes Jahr. In der Wohnung ist es still und einsam. Die Stimmung ist entsprechend. Adeles Kinder kommen schon seit Jahren nicht mehr um das Weihnachtsfest mit ihr gemeinsam zu feiern. Sie haben eigene Familien und wohnen in anderen Städten. Die gemeinsame Weihnachtsfeier fand anstandshalber Anfang Dezember statt.
Schön war es, die Kinder mal wieder zu erleben.
„Macht euch keine Sorgen um mich. Den Heiligen Abend gestalte ich mir allein. Feiert schön. Gruß an die Enkel!“
Höflichkeitsworte am Telefon.
Irgendwie fehlt aber das weihnachtliche Gefühl. Ohne rechten Appetit verspeist Adele ihr traditionsgemäßes Weihnachtsmenü. Kartoffelsalat und Würstchen.
Gleich wird sie ins Schlafzimmer gehen, den Schrank öffnen und eine wichtige Frage klären: „ Was ziehe ich heute Abend an?“
Denn an diesem Heiligen Abend ist doch etwas anders. Einmal in der Woche, immer am Donnerstag, besucht Adele den Tanztee im Cafe Wien. Und heute ist Donnerstag, der 24. Dezember. Dieter, der Besitzer des Tanzcafes war derselben Meinung. Auch am Heiligen Abend würde er für seine Stammgäste, seine Mädels und Jungs, die Platten auflegen. Dieter ist eben ein Profi in Sachen Musik und einsamen Herzen.
Gegen 19Uhr treffen sich die Damen und drei Herren vor dem Tanzcafe Wien. Es herrscht chronischer Männermangel. Wie im Leben, so auch im Tanzcafe.
„Fröhliche Weihnachten! Du auch hier? Ach, die Kinder. Aber auf unseren Diskjockey Dieter ist Verlass!“
Endlich geht die Tür auf. Die Gäste strömen in Richtung Tanzsaal auf der Suche nach einem günstigen Platz. Wer mit wem am Tisch sitzt, ist eine wichtige Frage. Der Saal ist festlich geschmückt und wirkt im Schummerlicht recht gemütlich. Schnurgerade Tischreihen säumen die Tanzfläche, rotplüschige Stühle laden zum Hinsetzen ein. Auf den künstlichen Tischgestecken geben rote Kerzen ein wenig Wärme ab. Überall blinken kleine Plastikherzchen. Ein sinnlicher Flair bereitet sich aus. Die Diskokugel an der Decke strahlt mit dem künstlichen Tannenbaum um die Wette. Lametta glitzert in allen Farben an den Zweigen. Ach, wie schön!
„Ist Lametta eigentlich noch modern?“ fragt Elsie. „Ist doch egal, wir sind ja auch nicht mehr ganz modern, oder?“ Die Tischbesatzung lacht ironisch.
Hilde macht dem Weihnachtsbaum glatt Konkurrenz. Sie ist ausladend mit glitzernden Schmuck behangen. Fehlt nur noch die Lichterkette. Na ja, wer hat, der hat!
Die drei eintretenden Herren werden genau, aus den Augenwinkeln heraus, beobachtet. Wo werden sie sich hinsetzen? Das ist später für den ersten Foxtrott strategisch wichtig. Heute setzt sich Heinz doch tatsächlich zu Adele an den Tisch. Das erhöht die Chancen, statt immer nur mit der Freundin, einmal mit einem gepflegten Mann zu tanzen. Fast wie ein Lottogewinn. Adele lächelt Heinz verschämt zu. Ein Augenzwinkern durch die dicken Brillengläser ist die Antwort. Eine schöne Bescherung.
„So wie ein Engel…“
Dieter legt die erste Platte auf. Er weiß, wonach Frauenherzen schlagen.
Auch er hat schon einmal bessere Zeiten gesehen. Aber lieber Diskofox am Heiligen Abend, als einsames Puschenkino daheim.
Wer will Weihnachten schon allein verbringen?
„Darf ich bitten, meine Dame?“ Wie ein Kavalier alter Schule begleitet Heinz Adele zur Tanzfläche. Andere tanzfreudige Exemplare füllen das Parkett. Hier herrscht noch der Paartanz.
Leni, die absolute Tanzfavoritin, ist heute Abend nicht da. Das erhöht die Tanzchancen der anderen Damen bei den Herren. Wer nicht da ist, kann auch nicht aufgefordert werden.
Arthur bittet nur die schlanken Damen zum Tanz. Gut, wer hier Kleidergröße 42 trägt. Wer weiß, wie seine häusliche Dame aussieht. Egal, heute zählt nur das weihnachtliche Tanzvergnügen. Diskretion ist Ehrensache.
„Tausend Sterne leuchten dir…“
Das ist die Dramaturgie des Tanzabends. Alles liegt in Dieters Händen. Er ist der Herr der Schallplatten.
Walter tanzt auffällig oft mit Hertha. Sie fühlt sich wohl wie die Tanzkönigin. Sonst tanzt sie lange nicht mit jedem. Die Haare trägt die Dame heute feierlich, mit Strasssteinchen besetzt, wie ein Flokati Teppich. Ist ja Weihnacht!
Dieter, um einige Jahre jünger als seine Mädels, ist gegen Tanzaufforderungen immun. Er hat den gewissen Charme. Die Haare sind modern nach hinten gegellt. Der kurze Schnauzbart macht ihn um Jahre jünger. Leider ist nur Flirten erlaubt. Dieter schaut eher nach den jüngeren Mädels.
„Schenke mir rote Rosen…“
Frieda singt laut mit und lächelt die Herren herausfordernd an. Hier kann die beste Freundin zur Konkurrentin werden.
Walter tanzt mit Hertha in Richtung Bar. In der Spiegelwand erstrahlt ein glückliches Paar.
Eine Runde Kirschlikör für alle. Das lockert die Runde auf und ist kompatibel mit den Herztabletten.
Bertha erobert Heinz. Typisch Bertha! Nimmt ihn das Gläschen Likör aus der Hand und drückt ihm ein Küsschen auf die Wange. Anschließend zerrt sie Heinz in Richtung Parkett.
„ Die Gitarre und das Meer…“
Die soll bloß aufpassen, dass ihr künstliches Haarteil nicht verrutscht. Die auffällige lilafarbene Bluse, der große Ausschnitt, knallroter Lippenstift, das passt auch nicht gerade zum Weihnachtsfest. Bertha macht mal wieder ein auf Diskoschnecke. „Wirst auch nicht jünger, Mädel!“
Adele mag es lieber schlicht, aber ehrlich.
Damenwahl! Die Tanzbodenschönheiten fühlen sich unwiderstehlich. Augen leuchten wie Weihnachtssterne. Die parfümschwangere Luft macht ganz schwindelig. Das Licht wird gedrosselt. Nun wird es kuschelig. Arthur, der schicke Graumelierte, geht auf Tuchfühlung. Ach, er ist doch ein sicherer Tänzer. Den hätte man gerne auf dem Gabentisch.
Noch ein Kirschlikör und eine Brause. Die Stimmung ist weihnachtlich und feierlich. Geborgenheit und Illusion.
„Die Hände zum Himmel… und keiner ist allein..“
Das geht leider nur begrenzt, Altersrheuma.
Gegen 23 Uhr ist das Weihnachtsvergnügen vorbei. Schade, aber es gibt ja einen neuen Donnerstag und das nicht nur am 24. Dezember.
Das Licht geht an. Plötzlich wird es kühl im Saal. Die Gäste schauen müde und etwas verschämt in die Runde. Die Stimmung ist dahin.
Man sammelt die Garderobe ein. „Tschüss und Auf Wiedersehen. Bis nächste Woche Donnerstag. Noch einen schönen Heiligen Abend!“
Heinz begleitet Adele zur letzten Straßenbahn.
„ Darf ich dir einmal meinen Tannenbaumschmuck zeigen?“
Adele freut sich schon glückselig auf die Bescherung.