Ich stecke immer in irgendeiner Geschichte. Unschuldig und verwirrt von den nächtlichen Träumen blinzele ich frühmorgens in den Tag. Schon erlebe ich die ersten Geschichten. Meine Träume in der vergangenen Nacht. Lebhafte, fantasievolle, knallbunte Bilderserien, die mir wie ein Film sekundenschnell auf meiner inneren Leinwand gezeigt werden.
Der Rechner unter meinem Scheitel scheint Tag und Nacht zu laufen. Neue Daten, die ich am Tag durch Ereignisse, tägliche Geschehnisse, Begegnungen aufnehme, werden umstrukturiert und abgespeichert. Alte Programme, die seit meiner Kindheit in den Synapsen lagern, werden zu fantasiereichen, emotionalen Traumelementen umstrukturiert.
Nervenzellen scheinen ihre Botenstoffe beflügelt und geschwind durch meine zentralen Windungen zu jagen. Mein Gehirn saugt sich täglich mit Informationen voll, arrangiert diese in unterschiedlichen Ordnern. Ich habe es aufgegeben meine Träume aufzuschreiben. Eine stattliche, außergewöhnliche Lektüre könnte gedruckt werden. Ich hoffe, dass mein Gehirn nicht eines Tages müde wird, um unzählige Wellen Bits und Bytes in die Zellen zu steuern.
Ich schicke die Träume ins Reich der Nacht zurück, um die Gedanken frei für den beginnenden Tag zu machen.
Beim morgendlichen Gang zum Zeitungskasten begegne ich meiner Katze. Sie schnurrt und berichtet über die aufregenden Abenteuer der letzten Nacht. Es gab einen Fight mit Knoffi Fellnase. Erfolgreich wurde dieser über das Grundstück gejagt. Ein Waschbär hielt nach Leckerlis Ausschau und die Mäuse rüsten sich zum Winterschlaf. Die nächtlichen Katzengesänge bei Vollmond klangen unheimlich und gruselig. Alles spannende Erlebnisse, die sich lohnen würden aufzuschreiben. Gemeinsam gehen wir durch den Garten zum Haus zurück. Mein Garten, hier blühen die Geschichten hinter jedem Strauch. Zu dieser Jahreszeit überzieht Tau wie glitzernde Sterne den Rasen. Ein Farbenzauber der Stauden in den Beeten, verstärkt durch die dunkle Hecke im Hintergrund. Intensive, prächtige Naturtöne erblühen zum letzten Anblick. Der baldige Abschied naht. Ziergräser verneigen sich beschwingt vor uns im leichten Wind.
In der Küche, bei der ersten Tasse Kaffee, schlage ich die Tageszeitung auf. Auf jeder Seite lese ich Artikel über die man ganze Romane schreiben könnte. Aha, ein weltbekannter Online - Händler möchte künftig die bestellte Ware mit einem Paketkopter ausliefern. Das könnte ein Spaß werden. Was passiert falls die Drohne einen Defekt hat und meine bestellten Socken vorher abwirft? Werden sich diese sodann mit Astern und Dahlien in Nachbars Garten verbrüdern? Verwechselt meine Katze das unbekannte Flugobjekt mit den zwitschernden Heckensängern im Garten? Passt das unbekannte Flugobjekt in ihr Beuteschema?
Meinung der Tageszeitung: Jeder dritte Deutsche verzichtet im Winter auf sein Training im Freien und kuschelt lieber auf dem Sofa. Jetzt ist es aufgeklärt, ich bin die Dritte und hechle garantiert nicht bei 10 Grad Minus durch den vereisten Harzwald. Wenn die Couch durchgesessen ist, bleibt noch der Sessel und Muttis Kuscheldecke. Buchstäblich in dieser Stellung fallen mir die besten Erzählungen ein.
Eine Nachricht aus Amerika berichtet, dass ein Supermarktriese ein „Rund – um – Sorglos -Paket“ in Sachen Sterben anbietet. Inclusiv Sargmodelle in verschiedenen Ausführungen. Die Preise reichen von achthundertneunzig Dollar bis zweitausend Dollar für die Luxus -Edition. Der passende Kredit über drei Monate wird sofort gewährt. Wird das gute Stück an der Supermarktkasse gleich eingepackt, weiß man, dass das letzte Stündchen geschlagen hat.
Ich lege die Zeitung zur Seite und setze mich an meinen Schreibtisch. Meine Freundin ruft an und berichtet über aktuelle Ereignisse. Familienstreit, Beziehungskisten, der neuste Tratsch. „Schreibe doch mal über diese Angelegenheiten einen Ratgeber für Problemlagen. Das wäre ein Bestseller.“ Leider habe ich gerade ein anderes, unfertiges Manuskript vor mir liegen. Die Streitfragen müssen warten.
Seit meiner Kindheit begleiten mich unzählige Episoden und Begebenheiten. Das Fragewort „Warum“ war mein Lieblingswort. Alle Unternehmungen, jede Aussage wurde erforscht und ergründet. Beim Herumstromern über unseren Hof, durch den nahen Wald entstanden ständig neue packende Geschichten. Wohnten im Unterholz kleine Zwerge? Hatten sie es gemütlich im Moosbett? Wie sahen ihre Zimmerchen aus? Alte Bäume streckten ihre belaubten Zweige weit heraus. Die Blätter streichelten mich beim Herumstreifen durch das Dickicht. Sicher wollten sie mich fangen. Von mir erfundene Freunde, mit denen ich rege Gespräche führte, begleiteten mich bei meinen Aktivitäten. Auch damals hatte ich den Kopf voller Worte, die unbedingt herauswollten. Eines Tages rieseln die Buchstaben gewiss aus meinen Ohren heraus. Meine Eltern förderten meine Phantasie mit dicken Büchern, deren Inhalt ich begeistert verschlang. Sicherlich freuten sich die Erwachsenen über eine ruhige Zeit, ohne eine ständig schwatzende Tochter. Noch heute sind Bücher für mich das größte. Meine Sammelleidenschaft zeigt sich auf meterlangen Bücherregalen.
Ich schlage mein Manuskript auf. Die Worte aus meinem Kopf wollen auf ein weißes Blatt Papier gebracht werden. Sie möchten sich zu einem vielsagenden Text, der die Leser verführt, zusammenfügen.
Schreiben ist für mich eine magische, spirituelle Handlung, vielfach irrational und unberechenbar. Ich lasse mich in verschiedene Rollen fallen. Plötzlich bin ich traurig, stürze in einen Abgrund. Jetzt fühle ich mich beschwingt, das Herz macht einen Sprung über einen tollen Einfall. Ich halte den Atem an. Die Szene wird spannend. Die Finger bewegen sich, wie von Zauberhand, schneller auf dem Schreibbogen. Bloß den Gedanken nicht vergessen. Die Sätze fließen zu einer Geschichte zusammen. Ich muss lachen und schreibe und schreibe. Das nennt man in der Fachwelt wohl Schreibrausch. Für mich ist es das Ergebnis aller Gefühle, aller Inspirationen die sich mental aus der natürlichen Ressource meines Gehirnes lösen. Etwas das allem zu Grunde liegt und über einen kurzen Moment hinaus Bestand hat. Die Worte im Kopf bleiben, selbst wenn ich für heute meine Arbeit beende und mein Werk zuklappe. Für mich ist das Schreiben nicht nur eine Kopfsache, eine geplante Arbeit, die ich mir mühsam erarbeiten muss. Fühlen, Denken, gute Gespräche vermehren die Worte im Kopf und die Kunst das Gefühlte und Gedachte ungefiltert, unverfälscht auf das Blatt zu bringen. Gleich einem Kunstmaler, der gesehene Landschaften mit Pinsel und Farbe auf die Leinwand tuscht, beschreibe ich Situationen lebendig auf Papier. Häufig braucht es lediglich ein Wort, eine Erinnerung, eine Aussage und mein Kopf gibt die nötigen Sätze frei. Mein Beruf? Ich selber bezeichne mich als Satz- und Wortsammlerin. Mein Lieblingsbuch ist meine Schnipselklatte mit umfangreichem Lesestoff. Interessante Zeitungsartikel, Ideen, Gesprochenes und meine Gedanken sind auf vielen Seiten aufbewahrt. Es kommt der Tag und die gesammelten Werke werden zu einem neuen Buch geformt.
Na, dann… wir lesen uns!