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Ein Baum erzählt

Im Sommer und im Spätherbst erlebe ich meine schönsten Tage. Die Sonne scheint warm. Ich recke und strecke mich. Meine rosaweißen Blütenkerzen ragen duftend zwischen den grünen Blättern in den Himmel der Sonne entgegen. Ich blühe gerne verschwenderisch. Der Duft der Blüten zieht fleißige Bienen summend an. Der Wind rüttelt an den Blüten und nimmt diese mit auf eine lange Reise. Zuhause bin ich in einem kleinen Ort. Dort stehe ich mitten auf dem Dorfplatz. Meine Wurzeln breiten sich tief und fest in der warmen Erde aus. Von Zeit zu Zeit plaudere ich mit den Vögeln, die sich auf meinen Ästen niederlassen. In mir ruht ein Kern, der meine Gedanken verbirgt. Ich begleite die Menschen seit langer Zeit. Weittragend sichtbar ist meine mächtige Krone. Die Menschen kommen gerne zu mir und setzen sich auf die Bank zu meinen Füßen. Fröhliche Menschen, spielende Kinder, verliebte Paare begleiten meinen Jahresrythmus.
Jahrelang besuchte ein alter Geschichtenerzähler den schützenden Ort unter meinem Laubdach. Er kam von weit her, ruhte sich, von der langen Reise müde, im Schatten meiner Blätter aus. Eingehüllt im weiten, grauen Mantel saß er auf der Holzbank. Unter dem schwarzen Hut zeigten sich lange, weiße Haare: Seine Haut war von der Sonne braun gegerbt. Der Erzähler verzauberte die Menschen mit wundersamen Geschichten. Besonders die Kinder wollten die Märchen und Mythen hören. Sie lauschten gespannt und still. Geschützt im Schatten meiner mächtigen Laubkrone.
Der alte Mann berichtete von verborgenen Schätzen, geheimnisvollen Ländern, von Hexen, Gauklern und von Königen im fernen Land. Der Wind in meinen Blättern sang leise eine Melodie dazu.
Der Geschichtenerzähler zeigte den Menschen die Sehnsucht in ihren Herzen.
An einem sehr warmen Sommertag erzählte der Greis den Kindern die Geschichte vom Wunderbaum. Ein großer, starker Baum. Gerade so wie ich. Die Menschen liebten diesen Baum. Er gab ihnen im Sommer Schatten und fing bei starken Regen die Tropfen ab. Im Herbst sammelten die Kinder die Früchte des Baumes, als Winterfutter für die Tiere im Wald. Sein Stamm war so dick, das fünf Kinder ihn nicht umarmen konnten. Die Äste luden zum Klettern ein. Die Kinder wiegten sich in der Krone. Erkannten die Menschen die Kraft des Baumes, wurden sie verzaubert. Sie fanden Ruhe und Stille, Frieden und Glück.
Eines Tages hatte der Baum einen Traum. Er sollte verletzt werden und seinen Stand verlassen. Darüber wurde er sehr traurig. Die Zweige krümmten sich und er verlor alle Blätter. Ein reicher Mann kam daher, der Holz für seinen Herd suchte. Was bot sich da besser, als der starke Stamm mit seinen Ästen. Mit vielen Axtschlägen wurde der Baum zerschlagen und gefällt. Bald sahen Menschen im Ort den gespalteten Stamm liegen. Der Stolz war gebrochen, das Holz zerschlissen. Die Äste lagen verstreut und Holzspäne wie tausend helle Splitter.
Es sollte noch Jahre dauern bis ein neuer Baum aus einer kleinen Kastanie nachwuchs.
Der Geschichtenerzähler zeigte mit seinen Stock in mein Laubwerk. „Seht diese Kastanie. In ihrem Blätterdach leben meine Geschichten weiter. Ihr braucht nur dem Blätterspiel zu lauschen. Seine Wurzeln ruhen hier fest in der Erde. Dieser ehrwürdige Baum spricht zu euch und ist eure Heimat. Achtet, hütet und schützt ihn.“
Ein leichter Windhauch umspielte meine Rinde.
Andächtig schauten die Menschen in meine Laubkrone. Der Wind fächelte die Blätter. Sie versprachen mich für immer zu schützen und zu ehren. Das ging mir ans Herz und leise schüttelte ich meine Blätter. Ich versprach ebenfalls stets satte, volle Schatten zu spenden. Die Menschen weiter zu beschützen und Ihnen Geschichten zu erzählen.
Noch immer sitzen die Menschen auf der Bank zu meinen Füßen, beobachten mein Blätterspiel und legen ihre Hände an die raue Rinde. Die Kinder sind längst erwachsen geworden. Sie erinnern sich gerne an den alten Erzähler. Lange wurde er nicht mehr gesehen. Vielleicht wurde der alte Mann von fernen Wäldern gerufen.
Jetzt, nach all den Jahren, fallen mir die Geschichten wieder ein. Einige wunderbar traurig. Andere herzbewegend. Der Wind in meinen Blättern rauscht, mal laut, mal leise, ein Sehnsuchtslied dazu. Heute erzähle ich den Menschen geheime Geschichten. Sie lauschen still den Klang meiner Blätter hinterher. Jedes Erlebnis erinnert sie an die Kinderzeit und wird nun zu einem Bild.
Der Wind schüttelt die Blätter hin und her. Ich wiege meine knarrenden Äste im Takt. Die Abendsonne, die durch meine Zweige scheint, zeigt Schatten der Figuren aus Märchen und Mythen. Gesichter von alten Gestalten sind in meiner dicken Rinde zu erkennen. Unverrückbar im Wandel der Zeit. Man muss nur genau hinschauen. Der Wind lässt meine Blätter stürmisch brausen oder leise flüstern. Durch das Laub fällt das Sonnenlicht. Es schillert und funkelt. Dazu das bleiche Leuchten meiner großherzigen Blüten. Genau wie die Kastanienblüten gehen auch die Gedanken auf. Ich bin gerührt und höre die tiefe Stimme des Geschichtenerzählers. Es klingt nach Vergangenheit.
Im Herbst, wenn sich meine Blätter goldbraun einfärben, werfe ich meine Früchte für die Kinder ab. Grüne, stachelige Kugeln. Ihre Schale bricht am Boden auf. Braune, glatt - glänzende Kastanien fallen heraus. Sie bringen Glück. Die Blätter fallen und bilden einen dicken Teppich an meinen Wurzeln. Ein Sturm fegt sie mit festen Griff über den Dorfplatz. Im Winter gönne ich mir eine Pause. Schnee liegt auf meinen dicken Ästen. Es herrscht Winterruhe. Nach einer langen ruhigen Zeit weckt mich das fröhliche Vogelgezwitscher. Ich rolle in der glitzernden Frühlingssonne meine langstieligen Blätter aus und bin bereit für neue Abenteuer. Der Jahresrythmus beginnt von neuen.

Edith Jürgens

Hauptstraße 61 b
06502 Thale - OT Friedrichsbrunn

 

Tel.: +49 (0) 39487 / 74 54 97
E-Mail: edith.juergens[a]gmx.net