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Rieskascha mit Kompott
Eine mennonitische Kindheit an der Molotschna

Prolog
Sonntagnachmittag. Bibelstunde in der Sonntagsstube. Vater las Bibeltexte vor.
Mucksmäuschenstill hörten Katharina, Margarete und ich zu. Mutter und Großmutter stickten an einer Decke. Samuel spielte plappernd auf dem Teppich. Alles schien friedlich, bis wir die Hoftür poltern hörten. Fjodor stürmte in die Stube und brüllte angsterfüllt: „Sie kommen! Sie kommen!“
Die Erwachsenen sprangen auf. Ein Stuhl kippte krachend um. Mutter schrie: „Schnell, schnell, nach oben und versteckt euch unter den Betten!“ Katharina fasste uns hart, mit angstverzerrtem Gesicht, an den Händen und zog uns hastig die Treppe hinauf. Panisch rutschten wir unter die Betten, drängten uns mit dem Rücken dicht an die Wand. Mutter und Großmutter flüchteten mit Samuel im Schlafzimmer. Vater und Großvater liefen auf den Hof und sahen den Reitern entgegen.
Schwarz-graues Getümmel am Horizont. Wie apokalyptische Reiter wälzte eine Wolke aus Staub und Erde heran. Ein Höllentor schien sich zu öffnen. Preschende Hufe hielten wie ein tosender Sturm auf das Dorf zu. Die ersten Gestalten brachen, tief über die Hälse ihrer Pferde gebeugt, aus der Masse.
Nestor Machno und sein gefährliches Heer. Ihr mörderischer Ruf eilte ihnen meilenweit voraus. Da unser Gehöft nahe der Steppe stand, sprengten die barbarischen Reiter zuallererst in unser Hoftor hinein. Die Machnowsen sprangen von den Pferden, stürmten sofort mit gezogenen Gewehren auf Vater zu, schlugen auf ihn ein und drängten ihn zur Seite. Wir hörten die schweren Stiefel auf den Treppenstufen und wagten vor Angst kaum zu atmen.
Türen knallten, Glas splitterte, Möbelstücke krachten zu Boden. Halb benommen folgte ich dem Stimmengewirr. Mordgierige Gesichter beugten sich herab. Schmierige Hände zerrten uns an den Haaren unter den Betten hervor. Neben mir stieß Margarete spitze Schreie aus und versuchte die greifenden Hände wegzuschlagen. Die Männer prügelten uns die Treppe hinab, durch die Küche, schließlich vor die Tür. Zu Tode verängstigt und eingeschüchtert standen wir zitternd auf den Stufen. Mutter, Großmutter und Sweta liefen panisch und vor Angst zitternd auf den Hof. Wie blutgierige Wölfe ihre Beute umkreiste die Horde uns mit gierigem Blick. Der Schreck saß uns regelrecht im Nacken. Vater stand mit versteinertem Gesicht und schweißnassem Hemd Machnow gegenüber. Furchterregende Spannung und der Geruch des Todes lagen in der Luft. Die Zeit stand still. Alltägliche Geräusche auf dem Hof erloschen.
Machno beugte sich aus dem Pferdesattel zum Vater. Heuchlerisch, mit schmeichelnder Stimme, süß wie eine Melodie, sprach er auf ihn ein. „Seht, gnädiger Herr. Da ritt ich tagelang durch die Steppe, um das Land zu befreien. Nun habe ich den Bart voller grauer Haare.“ Bedrohlich ruhig strich er mit der Hand über den schwarzen, zerzausten Bart, blickte Vater kaltherzig an und befahl mit eisiger Stimme:“ Ihr aber, vorzüglich genährt, das Haus prächtig bestellt, die Familie bei guter Gesundheit, habt sicherlich ein paar vorzügliche Pferde im Stall, die ihr mir ausleiht. Außerdem sind reichlich Vorräte für die Kämpfer erwünscht!“
Machnos kräftiges Gesicht, die buschigen Augenbrauen über der breiten Nase, das dichte schwarze Haar, das fast über die Augen fiel und der stechende Blick lösten das Grauen aus. Eine kaltblütige Erscheinung.
Die nach ihm benannten Machnowstschina sahen Machno stolz als ihren „Badjko“ an. Der Anführer, der eigenhändig grausame Hinrichtungen im Namen der Revolution durchführte. Wie ein sturmbewegtes Meer flossen die Reiter im Kampfgeiste über das Land. Sie töteten Gutsbesitzer, Priester, Lehrer und Mennoniten auf bestialischer Weise. Erfüllte man ihre Wünsche nicht sofort, mordeten, vergewaltigten, schossen sie und brannten Haus und Hof nieder. Machnos kaltblütige Ruhe war weithin bekannt und erstaunlich. Was kümmerten ihn Kugeln und Geschosse, die auch seine Kämpfer buchstäblich in Stücke rissen. Jetzt standen Machnos Gesellen hässlich grinsend, die Gewehre im Anschlag, um uns herum. Machno saß lauernd auf dem Pferd und spielte mit einem gefährlich schimmernden Säbel. Provozierend ließ er ihn von einer Hand in die andere gleiten.
Das scheinheilige Lächeln, der penetrante Geruch nach abgestandenen Atem, Schweiß und Kot ließen uns wie versteinert stehen.
Mit zornigen Augen hasserfüllt schaute Machno uns Kinder an. Mir stockte das Blut in den Adern. Das Herz klopfte schneller und der Magen schnürte zusammen. Ich hielt die schreckliche Furcht nicht mehr aus und übergab mich. Ich schloss die Augen für einige Minuten, um das Unmenschliche auszusperren.
Plötzlich knallte ein Schuss. Eine Gewehrkugel schoss gefährlich nah über unsere Köpfe hinweg. „Jetzt sterben wir alle!“, dachte ich und fing an zu schluchzen. Ein grässlicher Gedanke. Warm und nass lief Wasser meine Beine hinunter. Ich hatte mir vor Angst in die Hose gemacht.
Wie eingefroren stand meine Schwester Margarete neben mir, presste die Zähne zusammen und riss vor Schreck die Augen auf. Ihr Kleid klebte schweißnass am Körper. Sie ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten. Hoffentlich schrie sie jetzt nicht los.
Sprachlos angesichts der drohenden Gefahr bewegte unsere Mutter stumm die Lippen. Sie sprach Gebete. Das Wimmern unseres kleinen Bruders Samuel in ihrem Arm durchbrach die Totenstille.
„Weib!“, herrschte Machno meine Mutter an. Sie verstand sofort und eilte mit Großmutter in die Küche, um Samuel zu beruhigen und Vorräte zu holen.
Sweta nutzte diesen Moment und zog Margarete und mich resolut in den Hauseingang.
Ich sah Vaters totenblasses Gesicht. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn. Er straffte die Schultern, nickte Großvater und dem Knecht wortlos zu. Sofort eilten beide in den Stall. Einer von Machos Leuten folgte ihnen und brüllte: “ Schnell, schnell, Bauer!“ Mit dem Gewehrkolben schlug er über Vaters Schultern. Die Männer führten die verschrecken Pferde auf den Hof und übergaben sie Machnos Leuten.
Die Tiere spürten die Angst und Nervosität, wieherten und scharrten unruhig mit den Hufen. Die Machnowzen hatten Schwierigkeiten die Zügel ruhig zu halten. Einer der Männer, ein ehemaliger Arbeiter unserer Werkstatt, tuschelte mit Machno. Er setzte sich vermutlich für unsere Familie ein. So kamen wir glimpflich davon.
Endlich schwang sich die Horde auf die Pferde. Sie drohten noch einmal mit ihren Gewehren und stürmten mit heiserem, tierischen Gebrüll in einer dunklen Welle aus Staub und Dreck davon.
War der grausame Spuk zu Ende?
Die Eltern fielen auf die Knie, falteten die Hände zum Himmel und beteten zu Gott.
Großmutter weinte und zog uns Kinder in die Küche. Die Anspannung fiel von uns ab. Weinend fielen wir uns in die Arme.
Die Machnowsen ließen ein kleines Russenpferd zurück. Wir nannten es „Manja“ und pflegten es bis zu unserer endgültigen Ausreise.
Molotschna
Offenbar schaffen Menschen es, Zeiten im Leben in Abschnitten einzuteilen. Auf diese Weise ordnen und verarbeiten wir die Vergangenheit und geben sie an nachfolgende Generationen weiter. Erlebte Geschichten, die wie Buchkapitel im Gedächtnis eingeprägt sind.
Abwechslungsreiche, bezaubernde, unberührte Landschaften, traditionelle aufgeschlossene Gastfreundschaft, kulturelles Erbe … das alles verspricht der Reiseführer des zweitgrößten Landes Europas.
Ein Ausschnitt in meinem Lebensbuch … die Ukraine. Das Siedlungsgebiet unserer Vorfahren, die Niederung südlich des Flusses Molotschna am Asowschen Meer. Ein Zuhause für Generationen der mennonitischen Glaubensgemeinde.
Im 18. Jahrhundert emigrierten Tausende deutschsprachige Mennoniten auf Einladung von Zarin Katharina II. aus dem westpreußischen Weichseldelta nach Südrußland, in die heutige Ukraine. Ein Grund zur Auswanderung waren zu jener Zeit die fortgesetzten gesetzlichen Beschränkungen der preußischen Behörden gegenüber christlich – pazifistischen Gemeinschaften. Zugleich erhofften sich die Mennoniten, als eine Gemeinde „wehr- und waffenloser“ Christen, einige Privilegien. Im neuen Land galten keinerlei Sondergesetze in Handel und Landwirtschaft.
In einem weitläufigen Tal zog über hundertfünfzig Kilometer der Molotschnafluss durch die Steppe. Die mennonitischen Ansiedlungen am Fluss entwickelten sich bis zum Ersten Weltkrieg zur größten, wirtschaftlich bedeutendsten Kolonie in Russland.
Die Ahnen meiner Familie siedelten ebenfalls in dieser Gegend. Sie nannten ihren Ort Münsterberg.
In der Erinnerung haften meinen frühen Lebensperioden verschiedene Farbschattierungen an. Zuerst die ungezwungene, hell strahlende Kindheit. Einige Jahre später folgte eine dunkle, graue Episode. Die Zerstörung der gutbürgerlichen Existenz meiner Eltern angesichts des Ersten Weltkrieges und der russischen Revolution. Die verzweifelte Flucht aus Münsterberg in eine fremde Welt. Lageraufenthalte und endlich, armselig mit Koffern und Rucksäcken beladen, die Ankunft in Deutschland. Leidvolle Augenblicke, die eine junge Seele in jenen Tagen nicht begriff.
Glück. Was für ein Wort. Am besten erfasse ich es in einer Rückschau und versuche, meine glückliche Kindheit aus der Vergangenheit hervorzurufen.
Münsterberg im Molotschnagebiet. Dort fühlte ich mich glücklich.
Ja, es wird Zeit. Es wird Zeit mich aufzumachen. Die Spuren der Vorfahren zu suchen und die Erinnerungen aufzufrischen.

Edith Jürgens

Hauptstraße 61 b
06502 Thale - OT Friedrichsbrunn

 

Tel.: +49 (0) 39487 / 74 54 97
E-Mail: edith.juergens[a]gmx.net